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Treffen
in der Nacht
Vor langer Zeit wohnten zwei Brüder auf dem Berg Morija,
auf dem König Salomon später den Tempel Jerusalems erbaute. Morija
heisst
übersetzt: "Gott wird sehen!" Und Gott sah, dass es gut war, wie die beiden
Brüder aneinander dachten und füreinander sorgten.
Die zwei Brüder waren gottesfürchtig und lebten nach dem Gesetz des
Ewigen. Der Jüngere von ihnen war verheiratet und hatte Kinder, der ältere
war ledig und allein. Die beiden Brüder arbeiteten zusammen, pflügten
gemeinsam das Feld und streuten miteinander den Getreidesamen aus.
Zur Zeit der Ernte brachten sie das Getreide herein und teilten die Garben in
zwei gleich grosse Haufen: für jeden einen Stoss Garben. Als es Nacht wurde,
legte sich jeder der beiden Brüder bei seinen Garben nieder. Der ältere
aber konnte nicht einschlafen und sprach in seinem Herzen: Mein Bruder hat eine
Familie, ich bin allein und ohne Kinder. Trotzdem habe ich gleich viele Garben
bekommen wie er. Das ist nicht gerecht.
Er überlegte lange hin und her und konnte keine Ruhe finden, bis er aufstand,
etwas von seinen Garben nahm und sie heimlich und leise zu den Garben seines Bruders
schichtete. Dann legte er sich wieder hin und schlief sorgenlos ein.
In der gleichen Nacht nun erwachte der jüngere Bruder von seinem Schlaf.
Er hatte von seinem Bruder geträumt, der allein war und keine Kinder hat.
Wer wird in seinen alten Tagen für ihn sorgen? Vielleicht war er selber bis
dahin schon gestorben. Was sollte dann aus seinem Bruder werden? So stand er auf,
nahm etwas von seinen Garben, die neben ihm lagen, und trug sie heimlich und leise
hinüber zu dem Stoss des älteren. Als die Morgensonne anbrach, erhoben
sich die beiden Brüder. Jeder war erstaunt, dass die Garbenstösse dieselben
waren wie am Abend zuvor. Aber keiner sagte dem anderen etwas von seinen verwunderten
Gedanken, sondern sann weiter auf Abhilfe.
In der zweiten Nacht wartete jeder ein Weilchen, bis er den Eindruck hatte, dass
der andere sich im tiefen Schlaf befand. Dann erhoben sie sich und jeder nahm
von seinen Garben, um sie zum Stoss des anderen Bruders zu tragen. Auf halbem
Wege trafen sie plötzlich aufeinander und jeder erkannte, wie gerecht und
gut es der andere mit ihm gemeint hat. Da liessen sie ihre Garben fallen und umarmten
einander in brüderlicher Ergriffenheit. Gott im Himmel aber schaute auf sie
hernieder und sprach: Heilig ist mir dieser Ort! Hier will ich unter den Menschen
wohnen!
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